Die kirchliche und soziale Lage in Jöllenbeck um 1838
Man sucht nach einer
einleuchtenden Begründung, warum ausgerechnet in dem kleinen Ravensberger Dorf Jöllenbeck
bei Bielefeld die christliche Posaunenmusik in den Jahren 1840 bis 1843 ihren Anfang nimmt und
sich von dort über ganz Minden-Ravensberg und die Region Westfalen ausbreitet. Das Harmonium
in der Dorfschule, in der alten Kirche eine "elende Orgel, die nur anspringt, wenn alle
Register gezogen sind", und die Violine des Dorfmusikanten dürften die wesentlichen
Musikinstrumente sein, mit denen in Jöllenbeck öffentlich musiziert wird.
Und im Gemeindegesang,
berichtet 1844 Pfarrer Volkening dem Superintendenten, "hat die Gemeinde Jöllenbeck nach
und nach dahin gebracht werden können, dass die Melodien ziemlich richtig nach dem neuen
Choralbuch gesungen werden. Was aber den Wohllaut anbetrifft, so ist es damit nicht so gut
bestellt."
Die Anfänge des Posaunenchors führen in eine Zeit, in denen sich die sozialen und
gesellschaftlichen Umbrüche für die ländliche Bevölkerung in Jöllenbeck krisenhaft und
existenzbedrohend zuspitzen. Mit fortschreitender Verdrängung des von Hand gesponnenen und
gewebten Leinens durch billigere maschinelle Leinen- und Baumwollgewebe aus England wird den
Spinnern und Webern binnen weniger Jahre ihre wirtschaftliche Existenzgrundlage entzogen.
Bevölkerungswachstum, Landreform, Missernten sowie steigende Lebensmittelpreise verstärken
eine Entwicklung, die außer den hauptberuflichen Leinewebern auch die gesamte Unterschicht
der besitzlosen Heuerlinge in Armut und Hoffnungslosigkeit treibt.
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Alter Leinenwebstuhl (Museum Detmold) |
Bauerhof mit Korngarben in Jöllenbeck |
Die Armut drückt den
Menschen ihren unglückseligen Stempel auf: Hunger, Krankheit, Alkoholismus und
Eigentumskonflikte destabilisieren das familiäre und öffentliche Leben. Die Kirche erreicht
unter dem Einfluss rationalistischer Prediger, die als Anhänger der Aufklärung das
"Licht der Vernunft" predigen und sich als Lehrer "Bürgerlicher
Glückseligkeit" verstehen, die Menschen in ihrer häufig ausweglos erscheinenden Notlage
nicht mehr.
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Auswanderungsvermerk in der Mitgliederliste des
Jöllenbecker Jünglingsvereins (1852) |
Die Menschen erfahren
Armut und soziale Abhängigkeit als tiefe Erniedrigung ihrer menschlichen Würde verbunden mit
einem Verlust an Selbstwertgefühl. Sie bleiben bei den brennenden Fragen nach
Lebensperspektive und Gerechtigkeit auf sich allein gestellt. Ab 1852 versuchen viele durch
Auswanderung nach Amerika eine "Neue Heimat" und neue Lebensperspektiven zu finden.
Keine "gute alte Zeiten". Dies ist, grob skizziert, das soziale und wirtschaftliche
Umfeld und der Boden, auf dem in Jöllenbeck und anderen Orten Minden-Ravensbergs eine
pietistisch geprägte Frömmigkeitsbewegung aufbricht, in der auch die Anfänge der
evangelischen Jünglingsvereine und Posaunenchöre von Minden-Ravensberg verwurzelt sind.